Anti-Pfingsten

Heribert Prantl (SZ) hat wieder einen seiner treffenden Kommentare veröffentlicht. Er prangert darin die Diskrepanz zwischen der Globalisierung und der Abschottung Europas an und bringt sie in Zusammenhang mit der wundersamen Völkerverständigung, an die das Pfingstfest erinnern soll. Und eine indirekte und negative Wahlempfehlung für die kommende EU-Wahl ist auch darin enthalten. Einfach großartig!

EU-Asyl in Ruanda?

Der Heilige Geist, der nun gefeiert wird, überwindet Grenzen. Der politische Geist, der in Europa immer mächtiger wird, grenzt aus und schottet ab.
Übermorgen werden sie wieder einwandern: Die Parther, Meder und Elamíter, die Bewohner von Mesopotámien, Judäa und Kappadókien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrýgien und Pamphýlien, von Ägypten und dem Gebiet Líbyens nach Kyréne hin, auch die Römer, die Juden und Proselýten, die Kreter und Áraber. Es ist Pfingsten, und da werden sie alle aufmarschieren und vorführen, dass Migration nichts, aber auch gar nichts Neues ist, auch wenn die für heutige Zungen sperrigen Namen der Länder im Jahr 2024 anders heißen. Heute wäre vom Irak und von Iran, Syrien und der Türkei die Rede. Die biblische Pfingstgeschichte spielt im Melting Pot Jerusalem. Es ist dort ein buntes Völkergemisch mit Menschen aus aller Herren Länder unterwegs, die beinahe genüsslich aufgezählt werden. Denn der Clou der Geschichte ist: Es kommt zu einer großen, wundersamen Verständigung unter ihnen. Pfingsten ist das christliche Fest, das daran erinnert.
Die Geschichte geht so: Die Apostel haben sich nach dem Tod des Jesus von Nazareth verängstigt, verwirrt und kleinlaut hinter verschlossene Türen zurückgezogen, während draußen auf den Straßen ein großes Fest gefeiert wird. Da fährt ein neuer Geist in sie, und sie begreifen, dass Abschottung, Verkriechen und Selbstabschließung nicht der Weg ist. Sie überwinden ihre Angst, sie mischen sich unter die Völker, sie reden davon, dass Jesus nicht tot, sondern lebendig sei. Und sieh da: Es geschieht ein Kommunikationswunder; jeder Zuhörer kann sie in seiner Muttersprache verstehen. Die Bibel nennt dies das Wunder des Heiligen Geistes.
Von so einem Wunder ist heute nichts zu spüren; der Geist des Jahres 2024 ist ein ganz anderer. Er ist kein Geist der Offenheit, er überwindet keine Barrieren, im Gegenteil: Er grenzt aus, er lagert aus, er perfektioniert Abschottung. 35 Jahren nach dem Mauerfall werden Grenzen nicht ab-, sondern ausgebaut. Auf dem Globus existieren Grenzschutzsperren von 26 000 Kilometer Länge, fünfmal so viel wie 1989; so hat es Tobias Prüwer in seinem Buch über die „Welt aus Mauern“ ausgerechnet. Es schafft dies eine beton-, elektronik- und paragrafengehärtete, mit Stacheldraht umwickelte Illusion von Sicherheit. Europa baut heftig mit an dieser Illusion. Es setzt auf immer rigorosere Abweisung, auf Pushbacks, auf Frontex. Es baut die „Festung Europa“.
Diese „Festung“ wurde einst als Negativbegriff erfunden für die Idee, dass der Kontinent nicht die Zugbrücken hochziehen dürfe. Der Begriff ist aber dann von den Befürwortern eines strikten Grenzregimes als ihr Kampfbegriff gekapert worden; die „Festung Europa“ gilt ihnen als Positivbegriff für ein Europa, das Geflüchtete an den Außengrenzen in Haft nimmt oder in Lager in Afrika verbringt. Die Flüchtlinge sollen nach Staaten wie Ruanda transportiert werden, die viel Geld dafür bekommen, dass sie eine Asylprüfung vornehmen und dann die Flüchtlinge bei sich aufnehmen oder nach irgendwohin weiterschicken. Das Asyl soll dorthin kommen, wo die Flüchtlinge keinesfalls hinwollen – um sie abzuschrecken.
Großbritannien hat dieses Modell entwickelt und so das winzige Ruanda zu einem big player in der Flüchtlingspolitik gemacht. Die Abschiebungen nach Ruanda sollen in Kürze beginnen; umgerechnet eine halbe Milliarde Euro lässt sich die Londoner Regierung das kosten. Es weiß noch niemand, ob und wie das Modell funktioniert, aber es hat in der EU schon viele Anhänger gefunden. Es taugt als Problemlösungssimulation. Die Europäische Volkspartei mit ihrer Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen propagiert daher im laufenden Wahlkampf die Abschiebung von Flüchtlingen nach irgendwo; der offizielle Name heißt „sicheres Drittland“. Die CDU hat diesen neokolonialen Kuhhandel mit Flüchtlingen in angeblich sichere Drittländer, also das Ruanda-Modell, soeben auf ihrem Parteitag in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen. Es ist dies die forcierte Fortsetzung der erfolglosen Flüchtlingsabwehrpolitik der vergangenen Jahrzehnte. Die Befürworter des Ruanda-Modells reden sich dieses Geschacher schön als quasi humanitären Akt; sie sagen: Wenn Flüchtlinge wissen, dass sie in Ruanda landen, selbst wenn sie es nach Europa geschafft hatten – dann versuchen sie die Flucht übers Mittelmeer gar nicht. Also, so behaupten die Ruandisten, retten wir mit der Ruanda-Lösung Leben.
Diese Abschottungspolitik wirkt nicht nur nach außen, sie wirkt noch viel mehr nach innen in die Gesellschaft hinein. Solche Maßnahmen versprechen: Ihr seid in Frieden und Sicherheit. Sie sagen aber zugleich: Die Invasion ist nur mit Mühe aufzuhalten; ihr müsst Angst haben. Sie bestärken die Menschen in dem antipfingstlichen Gefühl, dass der oder die Fremde eine Bedrohung ist. Gesell­schaften, die den Belagerungszustand aufführen, lassen ihre Bürger in Katastrophenangst versinken. Die Festungspolitik produziert, so sagt die US-Politologin Wendy Brown, „die Illusion einer Zukunft, die sich an einer idealisierten Vergangenheit orientiert“. Mauern, Zäune und Grenzkontrollen sollen Ängste sedieren, wecken sie aber umso mehr.
Es kommt zu der Situation, dass die Mobilität innerhalb der EU und auch die Mobilität ihrer Bürger nach draußen in die weite Welt grenzenlos sein soll. Gleiches gilt für die Mobilität der Finanz- und Warenströme. Nur die Migrantenströme – die sollen mit hohen Wällen und Dämmen gestoppt werden. Wer das will, der leugnet die Wirklichkeit, denn er leugnet die Gesetzmäßigkeit der Globalisierung. Ein sich immer rigider gebärdendes Grenzregime untergräbt die Freiheit, die es schützen will. Die liberalen Demokratien brechen dann, um sich zu schützen, ihre eigenen Regeln. Die britische Regierung hat das mit ihren Ruanda-Gesetzen schon getan: Sie hat einfach das autoritäre Ruanda per Gesetz als sicher erklärt. Sie hat die Klagerechte gegen Ruanda-Abschiebungen massiv eingeschränkt. Und sie hat es erlaubt, die Urteile internationaler Gerichte zum Flüchtlingsschutz zu ignorieren.
Der Heilige Geistes fährt als brausender Wind durch die verschlossenen Türen und vertreibt die Angst der Abgeschotteten vor denen da draußen. Einen Hauch davon wünscht man sich für die Festung Europa zu Pfingsten 2024.

Quelle: SZ
https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/859416/5

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